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Wasser-Welt im Anthropozän

Alles ist Wasser in Christoph Ransmayrs Roman „Der Fallmeister“. Und alles ist Erinnerung.

Der Erzähler und seine ältere Schwester Mira wachsen im Wasserstaub des Großen Falls auf. Ihr Vater ist der Fallmeister, Herr über die Schleusentore des Weißen Flusses, verantwortlich für den Tod von fünf Menschen. Unglück oder Absicht? Auf der Suche nach der Wahrheit kehrt der wie sein Vater namenlose Erzähler in der Erinnerung in die Welt seiner Kindheit zurück: die abgeschiedene Enklave der Schlucht am Großen Fall.

Er erinnert sich an den jähzornigen Vater, der nicht nur sein Handwerk meisterlich beherrscht, sondern als Kurator des Museums am Großen Fall die Vergangenheit verherrlicht. Er erinnert sich an Jana, seine zärtliche Mutter, die gezwungen wird, ihre Familie zu verlassen, und dorthin deportiert wird, von wo sie vor Kriegen geflohen war, auf die dalmatinische Adria-Insel Cres. Er erinnert sich an Mira, seine Schwester mit der Glasknochenkrankheit, mit der er nicht nur die verzweigten Wasserarme, Schotter- und Lehmbänke des Weißen Flusses als Lebenswelt durchstreift, sondern mit der ihn auch inzestuöse Liebe verbindet. Er erinnert sich an die fünf Toten jenes Bootsunglücks, das sich am Festtag des hl. Nepomuk zugetragen hatte. Alles ist Wasser getränkte Erinnerung.

Wir kommen aus dem Wasserstaub und werden ins Wasser zurückkehren …

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021. S. 35f.

Es war einmal. Schon die Großmutter war „Wasserbürgerin“ und Überlieferin der „Flußlegende“: „Geschichten von Flußgeistern, Algenwäldern, Nixen und dahinschwebenden, vielgestaltigen Wesen, die das Dunkel des Stromgrundes bewohnten, Geschichten von der Tiefe, von der Flut …“ (S. 14) Eine Flößerkapelle spielt Blechinstrumente, zu einer Knopfharmonika werden Flusslieder gesungen – traditionelle Riten zur Erinnerung an vermeintliche vergangene Größe eines Raumes, geprägt vom „bis ans Schwarze Meer strömenden Weißen Fluß“. „Mehr als vierzig Sprachen wurden am Weißen Fluß gesprochen, aber die Zahl der Brücken, die seine Ufer einmal miteinander vernäht hatten, schrumpfte mit jedem Jahr weiter und verwies mit dramatischer Deutlichkeit auf ein Zeitalter der Trennungen und Grenzen.“ (S. 9)

Nicht nur die „alte“ Rechtschreibung, in der dieses Buch geschrieben ist, kennzeichnet die zeitliche Kluft zwischen dem, der es schreibt, mitsamt uns, die es in der Jetztzeit lesen, und jenen, von denen diese Geschichte erzählt. Die brüchige Stabilität, die das Erdzeitalter des Holozäns nicht nur klimatisch kennzeichnete, gibt es nicht mehr. „Denn mit den Brücken waren auch die meisten Allianzen und staatlichen Verbindungen auf dem europäischen Kontinent verschwunden und zu einem Hagel aus Zwergstaaten, Kleinfürstentümern, Grafschaften und von Flaggen und Wappen geschmückten Stammesgebieten zersprungen.“ (S. 9)

„Im Wasser lag nicht bloß der Anfang von allem, sondern mehr als je zuvor alle Macht und alle Zukunft.“

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021. S. 49.

Es wird einmal. Mehr als zwei Jahrhunderte in der Zukunft des Anthropozäns spielt die von Christoph Ransmayr meisterhaft inszenierte Dystopie. Es ist die Zeit der „Wasserkriege“, der Kämpfe um das Blaue Gold, aus dem „alles Leben und alle Herrschaft“ (S. 41) kommt. Süßwasser, das nur etwa drei Prozent des Wasservorkommens auf dem Planeten Erde ausmacht, wird nach dem Schmelzen der Polkappen und der Gletscher infolge des Klimawandels zum kostbarsten Gut, zum wertvollsten Rohstoff. Nur hoch qualifizierte Hydrotechniker, die Wasser beherrschen, gewinnen, in Energie umwandeln können, sind in dieser neuen Weltordnung unantastbar.

Der Autor lässt uns einen Blick in diese von einem ungleich verteilten Zuviel an Meer und Dürre geprägte und von Wassersyndikaten gesteuerte Zukunft werfen, wenn er seinen unzuverlässigen Ich-Erzähler von Einsätzen am Mekong und in Amazonien quer durch das zersplitterte Europa schickt: von der stählernen Küste der landraubenden Nordsee an die trügerisch blaue, von Kriegen verwüstete „des istrischen Niemandslandes“ (S. 198). Er nimmt dabei den Weg, den jedes Wasser nimmt, mal zielstrebig, mal mäandernd: zum Meer.

„Ich folge seiner Schlangenlinie, unbeirrbar wie ein Rinnsal, das sich den Weg durch Geröll und Erde und Sand erst suchen muß, das aber, geleitet von der alle Zeit und allen Raum beherrschenden Schwerkraft, nur ein Ziel hat: das Meer.“

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021. S. 220.

Zeit und Raum sind die wahren Themen dieser dystopischen Geschichte, versinnbildlicht in der Strömungsumkehr, dem Phänomen eines umkehrenden Flusses wie des kambodschanischen Tonle Sap, der wider seine Strömungsrichtung fließt, „um wieder seinen Quellgebieten entgegenzufließen, zurück an seinen Ursprung und in die Vergangenheit, um sich am Ende des Monsums doch wieder zu besinnen, seine Richtung ein zweites Mal umzukehren und endlich, wie alles Wasser dieser Erde, den Weg ans Meer einzuschlagen.“ (S. 68) Zeit und Raum sind die Koordinaten aller Erinnerung; sie löschen Gegenwart aus und beherrschen „die von einem spielenden Gott geschaffenen Menschen“ (S. 61) in ihrem Wahrnehmen, Fühlen, Tun.

Alles ist Wasser in Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister. Es formt Lebenswelten, es zerstört Lebenswege, es prägt Denken und Sprache. Die Sprache des Wassers wird virtuos widergespiegelt in teils kaskadenhaften, teils sich windenden Satzgefügen. (An Hartmut Böhmes, in seiner Kulturgeschichte des Wassers formulierten Aufforderung zur Erforschung der Morphologie, Semantik, Syntax, Grammatik des Wassers erinnernd.*) Solchermaßen kunstvoll in Worte gefasst, übt das amorphe Element im Akt des Lesens eine sogartige, synästhetische Wirkung aus. Wasser ist im Roman Träger aller Erinnerung, gebannt in Bilder von wasserstauberfüllten Lichtreflexen, zurückschauend aus der gar nicht fernen Zukunft „eines zur gleichen Zeit versinkenden und ausdörrenden Kontinents“. Durch sie hindurch hören wir „die Gesänge, das Rauschen und Wispern des Wassers.“ (S. 155) Es ist die Wasser-Welt im Anthropozän.

* Böhme, Hartmut (1988). Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung. In Ders. (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers (S. 7–42). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Christoph Ransmayr
Der Fallmeister
Eine kurze Geschichte vom Töten

Roman
Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021
ISBN 978-3-10-002288-2

Foto Wasserfall: Pixabay