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Still-Leben: Sommer in der Stadt

Alles andere als nature morte: Farbenrausch pur mit dem neuen Buch von ATAK

Alljährlich im Juli beginnt die Stadtflucht. Die Schülerströme sind mit einem Mal versiegt. Beim Überqueren der Straße dreht man den Kopf ungläubig von links nach rechts und wieder zurück: Wo sind all die Autos, die sich hier sonst immer Stoßstange an Stoßstange drängen? Die wenigen Passanten sind gemächlichen Schrittes unterwegs, selbst das unvermeidliche Smartphone scheint einen Moment außer Dienst sein zu dürfen.

Wo sind alle anderen? An den Stränden der Algarve? Auf kroatischen Inseln? In ihren Gärten auf dem Lande, beschäftigt mit Algenschöpfen im Pool und Schneckenpflücken am Rhododendron?

Dabei atmet Sommer in der Stadt die herrliche Leichtigkeit des Seins. Botanische Gärten und städtische Parkanlagen bieten Grün in Fülle, ganz ohne gekrümmten Rücken und schwarze Fingernägel. Wem das zu langweilig ist, kann die Augen in ATAKs neues Buch versenken – und eine Farbenexplosion erleben.

Alles andere als nature morte

Still life – Still-Leben – nature morte lautet der Titel des großformatigen Bandes, der eigentlich eher ein Ausstellungskatalog ist. Denn der „Großteil der abgebildeten Arbeiten entstand in den Jahren 2020 und 2021 als Malerei in Mischtechnik auf Papier (Formate: 70 x 50 cm und 86 x 61 cm)“, wie uns das Impressum informiert und auch die Galerien in Marseille, Paris und Lausanne nennt, in denen sie präsentiert werden.

So steht denn auch jede Bildseite für sich: Hier kann das Auge über chinesische Vasen mit Kirschblütenzweigen und mit leuchtendem Obst überfüllte Schalen schweifen. Und unzählige Blumenvasen auf Tischen bewundern. Deren Beigaben wiederum lassen eintauchen in die wundersame Welt des Sammlers ATAK, dessen Atelier „ein Kuriositätenkabinett in Reinstform“ ist, wie Till Schröder in seinem staunenden Nachwort schreibt.

„Ich mag die Stillleben-Malerei, weil es historisch gesehen die minderwertige Gattung war. Die Historienmalerei war bedeutend – das Stillleben eher nicht. Bis Picasso alles verändert hat. Weil das Genre Stillleben, ähnlich wie Comics, eher geringgeschätzt wird, steht es auch weniger unter Beobachtung. Das bedeutet wiederum eine experimentelle Freiheit für die Künstler*innen. Alles ist machbar.“

Georg Barber alias ATAK

FLOWER DOMI NATION

Alles ist machbar, in der Tat: Wir sehen die Eule der Weisheit (natürlich in ATAKscher Leuchtkraft) nicht auf dem klassischen Bücherstapel, sondern auf einer exotischen Frucht sitzen – daneben eine Mickeymouse. Immer wieder Dick-Tracy-Comics – mit pädagogischem Auftrag, weil „in Deutschland nur wenig Dick Tracy kennen – das ist dann eine Art Hommage an die große Comic-Kunst“, sagt ATAK im Gespräch mit Steven Guarnaccia, das den Band einleitet, „und eine Weitergabe von kulturellem Wissen, um Dick Tracy etwas Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ Spielsachen und Comicfiguren, ein Laterna-Magica-Arrangement, Pfeifen und Vögel, Bücher, CDs und Bilder tummeln sich auf den Tischen neben den Vasen mit den üppig leuchtenden Blumenkaskaden.

„Die Blumen auf meinen Bildern sind nicht korrekt. In den Gemälden geht es mir hauptsächlich um die Form.“

Georg Barber alias ATAK

Und viel Sex, Lust und Sinnlichkeit. Auf fast jedem Gemälde räkelt sich die Nackte, verknoten sich die Liebenden, wartet die Domina. Hier wird das Leben in seiner Fülle gefeiert, hier tobt das wilde Spiel. Zum Still-Leben gehört das Memento Mori, doch bei ATAK heißt das: „Statt Memento Mori, Memento Punki: Alles geht.“

Nach den Bilderbüchern Der Garten und Piraten im Garten bietet dieses Buch also keine Narration – dafür aber puren Farbenrausch. Zweimal im Buch sind Aufklappseiten zu finden – perforiert, zum Heraustrennen und Aufhängen. Aber dann müsste man sich für die Vorder- oder die Rückseite entscheiden. Und so wird das Buch wiederum zum Erlebnis: des Page Turns, der Entdeckungsreise für die Sinne, Seite für Seite.

Berauscht und leicht erschöpft gelangt das Auge an das Ende des Buches: Index. In Schwarz und Rot sind sie alle versammelt, auf die Gerald Barber alias ATAK in seinen Gemälden verweist: die Vögel, vom Wiedehopf bis zum Eichelhäher, die Figuren, von Tintin bis Woody Woodpecker, die Bücher und Comics, die Künstler von Rousseau bis Matisse. Und von Neugier getrieben, kehrt das Auge zurück zu Seite 1 und begibt sich von Neuem auf die Reise: mitten in das gar nicht stille Still-Leben von ATAK.