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Hülkendonck ist überall

Es herrscht Aufbruchsstimmung in den 70ern. Das geplante Atomkraftwerk wirkt wie ein Heilsversprech…

In Christoph Peters‘ „Dorfroman“ kehrt der Ich-Erzähler in seine Heimat, das fiktive Dorf Hülkendonck am Niederrhein, zurück. Einer der seltenen Besuche bei den betagten Eltern, der die behütete Kindheit am Lande und die zaghaften Ansätze rebellischer Jugend aus den hintersten Winkeln des Gedächtnisses an die Oberfläche holt.

Der Mann, der Hülkendonck aufsucht und mit den Augen des längst in die Großstadt Ausgewanderten neu entdeckt, ist das alter Ego des Autors. Christoph Peters ist in Kalkar aufgewachsen, jener Kleinstadt im Nordwesten Nordrhein-Westfalens, deren Name sich durch ein Prestigeprojekt der 1970er nachhaltig in das Gedächtnis der Menschen gebrannt hat: dem Bau eines sogenannten ’schnellen Brüters‘ – ein Kernkraftwerk, das mehr Brennstoff herstellt, als es in der selbenen Zeit selbst verbraucht. Die Anlage in Kalkar ging jedoch nie in Betrieb und erlangte als eine der größten Industrieruinen Deutschlands nachhaltige Bekanntheit.

Der Erzähler, kaum in Hülckendonck angekommen, erinnert sich. So viele Eindrücke, die Erinnerungen wachrufen. Und wie das so ist mit Erinnerungen, sie springen hin und her, halten sich an keine Chronologie. Ebenso wechseln im ‚Dorfroman‘ die Zeitperspektiven. Drei Ebenen greifen nahtlos ineinander: wir sehen den Heimkehrer als Kind, das mit Erstaunen die Umwälzungen wahrnimmt, die sich in Hülkendonck zutragen, sehen ihn als Jugendlichen, der sich heillos in Juliane, eine um einige Jahre ältere Anti-AKW-Aktivistin verliebt und als Erwachsenen, der sich beim Gedanken ertappt, auf Dauer in die Heimat der Kindheit zurückzukehren.

Christoph Peters erzählt eine Kindheitsgeschichte, in der er dem Kind, das er war, auch eine eigene überzeugende Stimme verleiht. Der junge Bursche nimmt die Welt, in der er lebt, deutlich wahr, er sieht auf zum Vater, der in der Kirchengemeinde ein gewichtiges Wort mitzureden hat und ist eingebettet in eine konservativ-religiöse Welt, die zunächst auch die eigenen Urteile des Jungen bestimmt.

Christoph Peters erzählt aber auch eine Coming-of-age-Geschichte. Der 15jährige, der sich liebend gern auf Schmetterlingsjagd begibt und ein bekannter Naturforscher werden will, der seinen Vorbildern Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek, die im Fernsehen den Menschen die Natur nahebringen, ebenbürtig werden möchte, ändert seine Ansichten, als er eine Gruppe von Atomkraftwerksgegnern kennenlernt, die gegen den Bau des schnellen Brüters in Hülkendonck protestieren. Widerstand, der am Ende in einer wüsten Straßenschlacht mit Verletzten auf beiden Seiten, der Kernkraftwerksgegner und der Polizei, endet, die den Jugendlichen, der erstmals gegen das Elternhaus aufbegehrt, verwirrt und unsicher zurücklässt.

Und natürlich erzählt Christoph Peters auch die Geschichte der Bundesrepublik der 1970er, läßt geschickt und unaufdringlich das Jahrzehnt durch Menschen und Ereignisse wieder aufleben. Alle, die alt genug sind, sich erinnern zu können, werden das Erlebnis nachvollziehen können, als der erste Farbfernseher seinen Standort im Wohnzimmer einnahm, auch wenn der Empfang zu wünschen übrig ließ. Wie gebannt saß Alt und Jung bei Hans-Joachim Kulenkampffs ‚Einer wird gewinnen‘ und ‚Dalli Dalli‘ mit Hans Rosenthal.

Ein ganzes Panoptikum aus Eindrücken, Erinnerungen, Blitzlichtern aus der Vergangenheit breitet sich vor den Leser*innen in den miteinander verwobenen Erzählebenen aus. Und im Mittelpunkt das Atomkraftwerk, das nie ans Netz geht, aber dennoch genügend Sprengkraft in sich trägt um ein Dorf zu entzweien. Die Gegner, die den Befürwortern aus dem Weg gehen, sogar die Straßenseite wechseln um nicht ins Gespräch kommen zu müssen. Es ist die Welt von draußen, die in das Dorf eindringt und die Menschen nachhaltig verändert.
Eine Liebesgeschichte mit unerwartetem Ausgang, eine präzise Analyse des Lebens im Dorf und am Ende ein Erzähler, der nicht weiß, wie er seinen Eltern mitteilen soll, dass sie dringend Unterstützung in den Dingen des Alltags brauchen.

All das und mehr ist Christoph Peters‘ Dorfroman.
400 Seiten, die sich lohnen.

Übrigens: heute lockt das Wunderland Kalkar, eine Freizeitanlage, die auf dem Areal des Kraftwerks errichtet wurde, mit Achterbahn, Kettenkarussell und Wildwasserbahn Abenteuerlustige in die kleine Stadt am Niederrhein. Wenn der Wind günstig steht, kann man im Ort sogar die Musik hören, die von den Fahrgeschäften herüberdringt.

Dorfroman

Christoph Peters
Luchterhand Literaturverlag | 2020
416 Seiten
ISBN 978-3-630-87596-5