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Anton Lukusch, Schachgenie

Die wilde Reise des Schach-Wunderkinds Anton Lukusch durch die Bundesrepublik.

Kennen Sie Anton Lukusch? Das Wunderkind, das Schachgenie? Der Junge, der in den 80er-Jahren als der größte aufstrebende Stern am Schachbrett galt und dann plötzlich wieder verschwand?

Sollten Sie dem Spiel der Könige nichts abgewinnen können, dann dürfte Ihnen der Name Lukusch vermutlich fremd sein. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 wurden Kinder aus der Ukraine mit Hilfstransporten aus der radioaktiv verstrahlten Heimat Prypjat in den sicheren Westen, nach Westdeutschland, gebracht. Darunter auch Anton Lukusch und sein Freund Igor Shevchuk. Anton und Igor, zwei telepathisch miteinander verbundene Burschen, die nichts und niemand trennen konnte. Und auch Antons Aufstieg in der Schachwelt schien unaufhaltbar. Als sein analytisches Talent entdeckt wird, jubelt die Öffentlichkeit, sogar ein Auftritt in ‚Wetten dass?‘ und eine medienwirksam in Szene gesetzte Schachpartie mit Bundeskanzler Kohl folgen.
Anton erfüllt alle in ihn gesetzten Erwartungen, Igor stets an seiner Seite, bis er eines Tages spurlos verschwindet, kein Lebenszeichen bleibt zurück, keines folgt in den nächsten Jahrzehnten. Erst im Jahr 2019 taucht Igor wieder auf, und diesmal ist er, der nie so talentiert erschien, Schachgroßmeister. Doch wo ist Anton?

Im Rückblick hätte man denken mögen, Lukusch sei nur deshalb in den Westen gekommen, um für kurze Zeit ein verblüffendes Gastspiel seines Genies zu geben und anschließend ebenso unvermittelt, wie er aufgetaucht war, wieder zu verschwinden.

All die Jahre hindurch lässt allerdings einen die Erinnerung an Anton nicht los: Simon Ritter, der Sohn der Gastfamilie, die Anton nach seiner Ankunft im Westen aufgenommen hat, beginnt zu recherchieren, akribisch Dokumente, Fotografien, Zeitungsartikel, die mit Anton Lukusch in Zusammenhang stehen, zu sammeln und aufzuarbeiten, bis er selber im Zuge seiner Recherchen am 6. Februar 2020 spurlos in Kiew verschwindet.
Das vorliegende Buch ist eine Aufarbeitung dieser umfangreichen Materialsammlung, arrangiert von Benjamin Heisenberg, einem Jugendfreund Simon Ritters.

Schon beim Durchblättern der Aufzeichnungen sieht sich der Leser in die 1980er zurückversetzt, da der Band auch mit den erwähnten Fotos und weiterem Bildmaterial angereichert ist. Wir sehen Anton in das Spiel mit Helmut Kohl vertieft, gemeinsam mit Thomas Gottschalk bei der Schachwette in ‚Wetten dass?‘, Anton in späteren Jahren, als er als Industrieberater tätig war, auf einem Plakat, das Demonstranten gegen den Abbau von Arbeitsplätzen in die Kamera halten. Die Aufzeichnungen und Recherchen Simon Ritters waren umfangreich und Benjamin Heisenberg erweist sich als kongenialer Chronist.
Liegt hier also die Biografie eines Schachgenies vor uns – eingebettet in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik Deutschland? Benjamin Heisenberg unterstreicht die Seriosität seines Unterfangens auch mit einem Video, das das Buch begleitet.

Andrerseits: selbst wenn Sie das Schachspiel lieben und auch mit der Geschichte des Sports vertraut sind, wird Ihnen der Name Anton Lukusch höchstwahrscheinlich unbekannt sein. Das könnte an Ihren Gedächtnislücken liegen, oder aber doch am Autor.
Benjamin Heisenberg legt mit ‚Lukusch‘ einen ersten Roman vor, der nichts Geringeres ist, als eine überzeugende Mockumentary, Anton erweist sich als eine durch und durch erfundene Figur, Fotos und dokumentarische Berichte, die im Buch inkludiert sind, als perfekte Ergänzung eines erdachten Lebens.

So wird die Lektüre zu einem spannend-amüsanten Spiel mit all den Versatzstücken, die Heisenberg genüsslich ausbreitet und die historische Wahrheit suggerieren, eine verrückte Reise durch das Leben Antons und Igors in unterschiedlichen Textsorten, die unsere Wahrnehmung von Realität auf den Kopf stellt, eine Spurensuche voller Witz und Melancholie. Und gleichzeitig ein mitunter ein wenig sentimentaler Ausflug in die 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Ein überaus lesenswertes Kabinettstück, das der bildende Künstler und Regisseur Benjamin Heisenberg hier als Romandebüt vorlegt.


LUKUSCH

Benjamin Heisenberg
C.H.Beck
ISBN 978-3-406-79095-9